© Galina Baeva

Text von Galina Baeva

"Mag sein, dass dieser kurze Text sehr persönlich ist. Ist er und er duldet keinen Zweifel an der Überzeugung, dass eine Veränderung möglich ist, nur sie muss gedacht, visioniert und diskursiv „gefüttert“ werden. Und das ist unsere Aufgabe. Die Aufgabe von Allen."

Zwischen dem dritten Putzen der Fugen im Bad, der nächsten Serie von „Better Call Saul“ und dem verzweifelten Versuch mir den Sommer 2020 vorzustellen, fällt mir eine jüdische Anekdote ein: Ein Jude verirrt sich tagelang durch die Wüste, ohne Wasser und ohne Essen. Fast am Ende seiner Kräfte, sieht er plötzlich ein Schnitzel vor sich. Er nimmt das Schnitzel und sagt: „Danke Gott, dass ich dein Gebot erfüllen kann!“ und wird gerettet. Der Witz gibt keine Information, ob es sich um ein Schweine- oder Rindschnitzel handelt. Das ist in der Anekdote nicht das Wesentliche. Viel mehr erfüllt unser Held das allerwichtigste Gebot, nämlich das des Lebens. Plötzlich bekommt das erduldete Leid einen Sinn.

Alle, die im Moment nicht zu den systemerhaltenden Berufen gehören, versuchen seit 38 Tagen den Sinn zu finden. Jeden Tag mit sinnvollen Beschäftigungen zu erfüllen,  eine „Jenseits der Covid19 Zeit“ sich sinnvoll vorzustellen, sinnvolle Zeit mit ihren Liebsten zu Hause zu verbringen, sinnvoll die Tage ihrer Kinder zu gestalten, sinnvolle Gespräche ohne Covid19 mit  Familie und Freunden zu führen und vor allem einen Sinn im ganzen Geschehen zu erkennen. Jeden Tag erfüllen mich widersprüchliche Gedanken und Gefühle: Einmal bin ich skeptisch und sehe hauptsächlich die kommende Rezession, einmal bin ich froh über die gewonnene Freizeit und habe die Hoffnung „Bleiben wir dran und endlich ändert sich was!“ Ich erfahre, es geht vielen so und bin für einen Moment beruhigt.

Die aktuelle Situation forciert uns, die eigene Vulnerabilität zu reflektieren. Unsere eigene und die des Systems von Produktionsketten, Steueroasen, Arbeitsverlagerungen, Grenzen und Freiem Handel. Wie plötzlich alles still stehen kann, wie plötzlich all die alltäglichen Tätigkeiten nicht ausgeführt werden können und dürfen, wie plötzlich Überwachung ein Commonsense wird, wie plötzlich unsere Existenz gefährdet wird, wie plötzlich autoritäre Regime noch deutlicher und radikaler werden. Und die langsam aufgebauten Sicherheiten und konstruierten Gewissheiten sind …plötzlich entblößt. Das Leben. Das bloße Leben gilt es jetzt zu schützen!

Aber was ist mit denen, die seit jeher NUR das bloße Leben hatten?! Was mit den tausenden Flüchtlingen, gestrandet an den Küsten in Griechenland, was ist mit den tausenden obdachlosen Kindern in den Slums von Südafrika, was mit den tausenden alleinerziehenden Müttern in den Favelas von Sao Paolo, was ist mit den tausenden Pflegerinnen aus Osteuropa, die extra nach Österreich transportiert (es gibt kein besseres Wort für die extra Züge!) werden, um unsere älteren Angehörigen zu pflegen, was ist mit den tausenden Sexworker*innen in den Bordellen Europas, was ist mit den tausenden Putzfrauen, die unsere Häuser und Büros putzen? Schützen sie ihr bloßes Leben?!  

Ich fordere die Anerkennung all jener, die hinter der Kasse stehen, all jener, die im Minutentakt die Flächen in den Krankenhäusern desinfizieren, all jener, die unsere Großeltern tagtäglich füttern und auf das WC begleiten, all jene, die uns das Mittagsmenü und die neue Druckerpatrone nach Hause liefern, all jene, die unseren Müll sammeln, all jene, die in der Rede des Kanzlers NICHT erwähnt werden! Systematisch NICHT erwähnt werden.

Ich will hoffen, dass jetzt für kurze Zeit ein Fenster geöffnet wird – ein Fenster, in dem kleine Veränderungen möglich sind. Grundeinkommen, Transaktions- und Reichensteuer, medizinische Versorgung für alle und von gleicher Qualität, Recht  - unentgeltlich auf Medizin und Impfstoff gegen diesen Virus und alle kommenden Viren, gute Bildung für alle – hier und woanders, kein Hunger, keinen Zugang zu Waffen – weder hier noch woanders, keine Boni für Manager – weder in diesem noch  in den nächsten Jahrzehnten, keine staatlichen oder privaten SurveillanceSysteme, keine Parteispenden – für immer, keine Duldung von faschistoiden Parteien und faschistoidem Gedankengut  – im privaten und im öffentlichen Leben!

Pathetisch, aber notwendig! Halten wir es aus, dieses kleine Fenster der Selbstreflexion länger offen zu lassen? Halten wir es aus, uns ernsthaft Gedanken zu machen, wie wir eigentlich leben wollen? Wie wollen wir, dass unsere Mitmenschen leben? Halten wir es aus, uns Gedanken über die eigenen Privilegien zu machen? Halten wir es aus, wenn all diejenigen, die in der Ansprache des Kanzlers nicht vorkommen,  Privilegien fordern? Sind das Recht auf existenzielle Sicherheit, auf soziale, finanzielle und symbolische Anerkennung, auf Bildung und medizinische Versorgung Privilegien oder ein kategorischer Imperativ?

Mag sein, dass dieser kurze Text sehr persönlich ist. Ist er und er duldet keinen Zweifel an der Überzeugung, dass eine Veränderung möglich ist, nur sie muss gedacht, visioniert und diskursiv „gefüttert“ werden. Und das ist unsere Aufgabe. Die Aufgabe von Allen.

Dieser Text will lediglich einen Querschnitt der Themen, die uns  - als Tätige in der Kulturbranche –  seit 38 Tagen beschäftigen abbilden. Die Fragen, mit denen unsere virtuellen Meetings seit 38 Tagen beginnen. Eine Auswahl der Analysen und Essays, die so virulent in diesem Moment sind. Denn hier muss ich M. Friedmann´s Worte in Erinnerung rufen: Nur eine Krise ist eine Möglichkeit zur Veränderung, wenn Ideen, die bereits existieren, in Aktionen umgesetzt werden. Halten wir die Ideen für eine bessere Zukunft virulent!

Galina Baeva
leitet kulturen in bewegung seit April 2019


Eine Auswahl an Texten, Fragestellungen und Ideen, die zum nachdenken und reflektieren anregen:

Sammlung von Textbeiträge auf transversal zum Thema Covid19 

The Universal Right to Breathe von Achille Mbembe

Nach Corona: Wir sind nurmehr das nackte Leben von Giorgio Agamben 

From the State of Control to a Praxis of Destituent Power von Giorgio Agamben 

Sammlung von Textbeiträge auf ROAR online magazine zum Thema Covid19 

Sammlung von Textbeiträge auf Africa Is a Country online magazine um Thema Covid19

Rethinking the Apocalypse: An Indigenous Anti-Futurist Manifesto ein Manifest von Indigenous Action Media 

„Wir dürfen die Vernunft nicht dem Virus überlassen“ von Byung-Chul Han 

„Solidarität heißt heute: Abstand halten“ von Slavoj Zizek

Capitalism Has its Limits von Judith Butler 

Das Leben der Anderen von Jens Kastner 

Aprendiendo del virus von PAUL B. PRECIADO 

Neoliberalism and the Coronavirus von  SEIJI YAMADA 

In der Corona-Krise stellen wir… von Yuval Noah Harari